Systemisches Aufstellen - wichtiges Puzzlestück für die Zukunft der angewandten Organisationspsychologie
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Von Anna H. Balleyer:
Die wachsende Komplexität unternehmerischer Herausforderungen verlangt nach erweiterten methodischen Zugängen – und genau hier zeigt sich die Stärke und Wichtigkeit des systemischen Aufstellens für die angewandte Organisationspsychologie.
Trotzdem ist die Methode noch recht unbekannt und nicht fester Bestandteil des Curriculums. Als ich mich entschied, systemisches Aufstellen in meine Vorlesung zu integrieren, war mir bewusst, dass die Studierenden, wenn überhaupt, diese Methode bisher nur theoretisch kannten. Doch der systemische Ansatz wird erst wirklich verstanden, wenn er erfahren wird – daher war es mir wichtig, ihn auch praktisch einzuführen.
Die zunehmende Komplexität organisationaler Realität
Die Arbeitswelt hat sich fundamental verändert. Mitarbeitende werden nicht mehr als bloße Ressourcen betrachtet, sondern als aktive Gestalter*innen organisationaler Prozesse. Führungsethiken wandeln sich von hierarchischen "Command-and-Control"-Modellen zu partizipativen, servant-leadership-orientierten Ansätzen. Wo früher Top-Down-Entscheidungen die Norm waren, sind heute agile Teams, shared leadership, Inklusion von Diversität und psychologische Sicherheit zentrale Werte. Gleichzeitig sind die Probleme, die im Arbeitsalltag zu bewältigen sind, nicht zuletzt durch den technologischen Wandel, die Globalisierung und weitere Trends schnelllebiger und vielschichtiger geworden – sie lassen sich nicht mehr linear lösen.
Herkömmliche Methoden der Problemlösung stoßen hier oft an ihre Grenzen.
Sie bewegen sich primär auf der sprachlich-kognitiven-sachlichen Ebene und schaffen es selten, mehrere Perspektiven und die dazwischenliegenden Dynamiken gleichzeitig, wertfrei und umfassend zu erfassen. Ein Organigramm zeigt formale Strukturen, aber nicht die informellen Loyalitäten, Vorlieben oder Machtdynamiken, die in einem Team tatsächlich wirken. Ein Strategieworkshop bringt rationale Argumente hervor, aber nicht die emotionalen Widerstände, die bereits existieren und oft erst viel später – mit extrem kostspieligen Folgen – sichtbar werden... Was systemisches Aufstellen hier auszeichnet, ist die Fähigkeit, die nicht-kognitiven oder -sachlichen (oftmals emotionalen, unbewussten oder stigmatisierten) Schichten sanft aufzudecken und durch die Repräsentanz vieler systemischer Aspekte die Komplexität eines Problems sichtbar und damit grundsätzlich auch lösbar zu machen. Die Methode integriert sonst eher missachtete körperliche, emotionale und intuitive Wahrnehmungsebenen mit der rationalen Analyse und entspricht damit der Realität organisationaler Prozesse weit umfassender als rein kognitive Ansätze.
Einsatzmöglichkeiten in der organisationspsychologischen Praxis:
Bei neuen Teamzusammenstellungen werden potenzielle Spannungen, unklare Rollenverteilungen oder unterschwellige Hierarchieansprüche frühzeitig sichtbar – lange bevor sie die Zusammenarbeit sabotieren.
In Organisationsrestrukturierungen treten Ängste vor Bedeutungsverlust, verdeckte Widerstände oder die emotionale Bindung an alte Strukturen zutage, die in klassischen Change-Prozessen oft übersehen werden.
Bei Streitschlichtung in Teams als Führungskraft ermöglicht die Methode, die systemischen Hintergründe eines Konflikts zu verstehen: Geht es wirklich um die Sachfrage oder um ungelöste Loyalitätskonflikte, unterschiedliche Wertesysteme oder sogenannte Stellvertreterdynamiken?
Im Coaching von Führungskräften mit solchen Anliegen können komplexe Teamdynamiken räumlich erfahrbar gemacht werden, was neue Handlungsoptionen eröffnet.
Bei der Entwicklung von (Eingliederungs-)Prozessen – sei es die Integration neuer Mitarbeitender oder Gestaltung von anderen Prozessen – zeigt sich, wo im System noch "Platz" ist, was gebraucht wird und welche unbewussten Widerstände oder Erwartungen existieren.
Systemische Erfahrungen in der Lehre: Vom Abstrakten zum Erlebten
Die meisten Studierenden konnten mit dem Begriff "systemisch" nicht wirklich etwas anfangen, geschweige denn mit "Aufstellung". Meine Erläuterungen zur Methode vorab wirkten auf die Studierenden abstrakt und teilweise auch seltsam. Manche wollten lieber zuschauen, andere trauten sich. Einige wollten die Stellvertreterrolle ganz genau verstehen, bevor sie "reinschlüpfen" konnten. Somit verhielten sich die Studierenden wie die meisten, die zunächst von der Methode hören und ganz neu damit in Kontakt kommen. Kein Wunder: Lernkontexte bzw. unsere Lebensrealität erwarten ja in der Regel Denken, Vorbereitung, Kognitives – und weniger Fühlen, Intuition und Präsenz.
Das Einspüren in die Stellvertreterrollen war nicht so einfach und wurde von vielen von nervösem Gekicher begleitet. Nach und nach fragte ich die Stellvertreter, wie sie sich fühlen und ob etwas unangenehm ist – das ist manchmal einfacher zu spüren als positive Empfindungen. Oder ob sie vielleicht von ihrem Platz oder ihrer Position etwas verändern möchten. Alle verneinten zunächst. Erst nach einem Moment des Innehaltens traute sich einer der Studierenden zu sagen, dass der Blick eines anderen Stellvertreters so unangenehm sei. Der Bewegungsimpuls, sich abzuwenden, wurde spürbar und kurz danach auch vollzogen. Nach und nach probierten alle vorsichtig aus, ihrem Spüren zu folgen. Letztendlich entstand eine Bewegung, und die Aufstellung fand einen erleichterten Abschluss für die Stellvertreter und die Person, die das Anliegen mitgebracht hatte.
In der Reflexion stellte derjenige, der das Anliegen eingebracht hatte, erstaunliche Parallelen zur realen Welt fest und war verblüfft, was die Mitstudierenden ohne viel WIssen und Erklärung da stellvertretend erspüren konnten.
Es entstand ein Austausch darüber. Einzelne Stellvertreter entwickelten ein Gespür dafür, dass ihre eigenen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen während der Aufstellung wie zurückgestellt waren und sich im Flow der Aufstellung Impulse zeigten, die sie für sich selbst eher ungewöhnlich waren. Das war zum Teil subtil und wurde für manche Studierenden sogar erst in der Reflexion richtig deutlich.
Wir endeten die Vorlesung recht andächtig, aber in sehr guter und erleichterter Stimmung. Es war auf jeden Fall eine ganz andere Lernerfahrung für die Studierenden – eine, die zeigt, dass systemisches Verstehen über das rein Kognitive hinausgehen kann und eine, die Führungskräfte von morgen inspiriert.



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